Mir fehlen die Worte, deshalb schiesse ich heute einfach mehrere Hundert Fotos. Die diesjährigen Grotten und Tunnels des Morteratsch-Gletschers sind unbeschreiblich. Ich vergesse vor Begeisterung fast zu atmen.
Auf meiner Runde zu den eisigen – und leider vergänglichen – Kunstwerken bin ich alles andere als allein. Das war für einen Sonntag bei strahlendem Winterwetter auch nicht anders zu erwarten. Im Gegensatz zum letzten Winter brauche ich heute nur die Grödel. Zu den einzelnen Grotten und Tunnels ist schon ein guter Pfad gestampft. Einer folgt mehr oder weniger dem Sommerwanderweg. Und ebenfalls im Gegensatz zum letzten Winter weiss ich jetzt, dass in diesem Teil unter dem Schnee nur Felsen liegen und keine überraschenden Gletscherspalten zu erwarten sind.
Mein erster Stopp ist beim letztjährigen Tunnel. Davon ist allerdings kaum mehr etwas übrig. Nur an einer Stelle zeigt sich ein Durchgang, der aber nur noch etwa einen Meter hoch ist. Einzig der vordere Eingang ist gar grösser geworden und bietet interessante Anblicke. Dahinter stürzte die Eisdecke während der Sommermonate in sich zusammen.

Dort wo früher das hintere Ende des Tunnels war, hat sich kurz darauf ein neuer Eistunnel gebildet. Ich sah diesen schon bei meinem herbstlichen Besuch. Aufgrund von immer wieder herunterfallenden Steinbrocken ging ich damals nicht hinein. Jetzt im Winter, wo durch die Kälte auch in der Moräne das Gestein ziemlich festsitzt, lässt sich der Tunnel problemlos betreten. Mir fällt die Kinnlade herunter. Dieser Tunnel ist lang und geräumig. Gleich zu Beginn hat sich ein Guckloch gebildet; sozusagen ein Gletscherfernrohr zum Himmel. Darunter liegt ein Zugang zu einem Seitentunnel. Um die Ecke gehend höre ich Geräusche. Ui, bricht da etwa Eis ab? Nein, unter einer gefrorenen Schicht fliesst und gurgelt das Gletscherbächlein. Einige Eisbrocken sind tatsächlich von der gewölbten Decke heruntergefallen. Wie sie so ineinander gekeilt da liegen, ging das Tetris nicht ganz auf. Die gebauchten Eiswände faszinieren mich erneut. Auch die verschiedenen im Eis eingeschlossenen, «schwebenden» Steine und feinen Eisstrukturen begeistern mich. Die Sonne lässt das Eis in hellblau schimmern. Am Tunnelende hängen zahlreiche Eiszapfen am hohen Gletscherabbruch. Genau dieses Ende sah ich schon vor einem Jahr und im Herbst. Beide Male schien es zu heikel, die Grotte von dieser sonnenbeschienenen Seite zu betreten. Heute gehen jedoch zig Menschen ein und aus. Beim Betrachten von draussen, würde ich das ganze doch als kritisch einstufen. Die äusserste Schicht des Glescherabbruchs sieht so aus, als könnten da bald ein paar Eisbrocken herunterkrachen. Risse sind bereits gut sichtbar.

Die Wegspur geht weiter in Richtung des Abbruchs, wo ich letztes Jahr den «Haifischzahn» sah. Seitlich auf diesen Abbruch zu bildeten sich neue, kleinere Durchgänge und Höhlen. Zig Eisblöcke liegen kreuz und quer. Ob das wohl einigermassen sicher ist? Ich trete dennoch ein und kraxle ein wenig herum. Auch diese losen, zusammengewürfelten Formationen sind einfach nur «Wow».

Jetzt geht’s zum Abschluss meines Rundgangs zur grossen Gletscherzunge, die ich im Herbst besuchte. Das Bächlein nun gefroren, lässt es sich einfacher in die riesige Grotte hineingehen. Das mächtige Eisdach thront mehrere Meter über den Köpfen der Besucher. Aus einer leicht abgesenkten Wölbung tropfte Wasser und bildet eine Eissäule. Hier komme ich mir vor wie im tiefen gewaltigen Leib des Gletschers. Die Eisstruktur ist gewaltig und wirkt trotz der Masse gleichzeitig zerbrechlich. Die Energie nimmt mich vollends ein. Ich stehe noch lange in dieser gigantischen Eishöhle. Langsam ist mir kühl, doch ich will noch nicht gehen. Denn im nächsten Winter wird ein Teil davon geschmolzen sein. Ein Gefühl von Traurigkeit und Wehmut begleitet mein ununterbrochenes Staunen. Ja, wenn du die Fotos betrachtest, kannst du vielleicht nachvollziehen, wie es sein kann. Doch hier im Gletscherrachen zu stehen und all die Eisformationen zu sehen, lässt sich kaum in Worte fassen.

Schliesslich kann ich mich losreissen. Mittlerweile bedecken Wolken den Himmel. Langsam gehe ich den Pfad bis zur Brücke zurück, ohne allerdings nochmals den tiefer liegenden Eistunnel und die letztjährige Grotte zu besichtigen.
Ich bin unendlich dankbar, den gewaltigen Morteratschgletscher erleben zu dürfen, solange es ihn noch gibt. Diesen Ausflug kröne ich erneut mit einem Amaretto-Kaffee mit Schlagrahm.