Gelbe Lärchen, tote Hirsche und Gletschereis
Oktober 27, 2024

Das Engadin ruft. Schon während der Sommerzeit schwirrte die Idee durch meinen Kopf, den Eistunnel des Morteratsch-Gletschers nochmals zu besuchen. Selbstverständlich sollen auch die goldgelben Lärchen meinen Herbstausflug bereichern. Drei eindrückliche Tage stehen mir bevor. Meine Basis ist das Bündner Dorf Celerina – genau, dort wo im Winter der Zielbereich der Bobbahn ist.

Über die Albula-Strecke gelange ich vom Unterland ins traumhafte Engadin. Im malerischen Celerina entdecke ich auf dem Weg zu meiner Unterkunft die ersten Kunstbrunnen. Im Projekt Ars Aquae Fontis hat die gebürtige Mailänder Fotografin Laura Ceretti mehrere Dorfbrunnen künstlerisch mit der hiesigen Geschichte in Szene gesetzt. Bis Ende Monat sind ihre Werke noch zusehen. Es ist in der Zwischensaison äusserst ruhig hier, was genau meinem Geschmack entspricht. Zum Abendessen gönne ich mir leckere Capuns, welche ebenso meinem Geschmack entsprechen.

Tags darauf zieht es mich ins Val Trupchun, welches schon lange auf meiner Wunschliste stand. Für die Hirschbrunft ist es schon zu spät. Dennoch will ich mir dieses vielversprechende Tal selbst ansehen. Der Wanderweg führt erst durch dichten Baumbestand, wo ich gleich zu Beginn Eichhörnchen sichte. Der Weg schlängelt sich auf und ab, immer weiter ins Tal hineinführend. Gegen Mittag blickt gar die Sonne durch und taucht die Landschaft in intensivere Farben. Mittlerweile überschritt ich die Grenze zum Nationalpark und bewege mich auf die Alp Trupchun zu. Der imposante, geröllige Talkessel spricht mich an, und so gehe ich noch ein Stück weiter. Der Reiz ist gross, über die Fuorcla Trupchun nach Livigno weiterzugehen. Nach der Mittagsrast kehre ich jedoch zurück und wandere auf der anderen Talseite bis zur Parkhütte Varusch. Am Wegesrand entdecke ich ein Hirschskelett. Rund 200 Meter weiter sehe ich ein Zweites. Der Verwesungsgeruch liegt noch leicht in der Luft. Ich gehe davon aus, dass beide Tiere den letzten Winter nicht überlebten, doch so gut kenne ich mich mit dem Verwesungszustand von Wildtieren nicht aus. Trotz des Anblicks der toten Tiere muss ich schmunzeln, denn ich «bestellte» zu Beginn meiner Wanderung die Sichtung von Hirschen. Meine «Bestellung» war mal wieder nicht genau genug, denn ich vergass, sie mir lebendig zu ordern.

Nach einem reichhaltigen Frühstück fahre ich am zweiten Tag bis zum Bernina Ospizo am Lago Bianco. Der Tagesauftakt mit schönen Bergspiegelungen im Wasser begeistert mich. Zügigen Schrittes wandere ich halbwegs um den See, um dann zum Sassal Mason abzuzweigen. Von hier aus ist der Blick zum Lagh da Palü und ins Val Poschiavo ein Traum. Ich folge dem Wanderweg bergabwärts, mit dem Palüsee als Zwischenziel. Auch hier spiegelt sich die umliegende Bergwelt im ruhig liegenden Wasser. Da der alte Wanderweg zum Lagh da Caralin wegen Steinschlaggefahr gesperrt ist, begehe ich den neu angelegten Weg, der durch schöne Lärchenwälder führt. Mittlerweile sind schon viele Nadeln gefallen und die Bäume haben das kräftig leuchtende Gelb bereits verloren. Jetzt tragen die Lärchennadeln ein orangebraunes Kleid. Der Aufstieg hat die eine oder andere ausgesetzte Passage. Die neue Wegführung ist gut, doch der alte Weg liegt am sonnenbeschienenen Hang. Ich gehe im Schatten, was mich trotz ständiger Bewegung leicht frösteln lässt. Bald darauf erreiche ich den relativ jungen See, der durch das Schmelzwasser des Palü-Gletschers geformt wurde. Hier im Felskessel ist es besonders frisch. Genau genommen ist es schon so kühl, dass sich ein Hauch von Eisschicht auf dem See gebildet hat. Heute bin ich wohl die Einzige, die hierhergekommen ist – ganz nach meinem Geschmack. Oder vielleicht doch noch… im Kies entdecke ich ein paar Hufabdrücke von Steinwild. Mein heutiger Wandertag endet mit der Rückfahrt per rhätischer Bahn ab der Alp Grüm.

Dann kommt der Tag, auf welcher die Vorfreude gross war. Der Morteratsch-Gletscher steht auf dem Programm. Mit dabei ist erneut Peter, wie schon im März. Er bringt spontan noch einen Kollegen mit. Ob der Eistunnel vom Winter noch steht? Das Val Morteratsch liegt anfangs noch im Schatten. Die frostige Nacht legte wunderschöne Eiskristallgebilde um Gräser und Bäume. Diese Naturkunstwerke werden natürlich auch fotografiert. Dann begleitet uns die wärmende Sonne bei unserem Vorhaben. Wir folgen dem Morteratschbach, gehen dann über die Brücke weiter auf dem schmaleren rot-weiss-roten Pfad und nähern uns den felsigen Abschnitten. Es ist spannend zu sehen, wie sich die Landschaft ohne Schneedecke präsentiert. Zuerst suchen wir die Stelle, wo im Winter der Eistunnel war. Doch schon von weitem ist klar zu erkennen, dass er den Sommer über gelitten hat. Wir entscheiden uns, zuerst zur aktuellen Gletscherzunge zu gehen. Mit den Bildern des Winters im Kopf finde ich es äusserst spannend zu erleben, wie wir jetzt leichten Fusses über die Felsen gehen. Es beruhigt mich zudem, festzustellen, dass wir im Winter mit den Schneeschuhen wirklich nur über kompakte Felsen und kein darunterliegendes Eis mit Gletscherspalten gegangen sind.

Wir erreichen das Informationsschild, welches das Gletscherende von 2023 markiert. Doch erst etwa weitere knapp 100 Meter später stehen wir tatsächlich vor dem aktuellen Abbruch. Meine Emotionen sind gemischt: Zum einen flippe ich ab dem sich hier auftürmenden Eis und Gletschertunnel aus, andererseits macht es mir nachdenklich, dass innerhalb nur eines Jahres ein solch grosser Rückgang zu verzeichnen ist. Peter und ich lassen es uns trotz Warnschildern nicht nehmen, den mächtigen Eistunnel zu betreten. Mein kleiner innerer Glaziologe wird wach. Mit grosser Vorsicht und noch grösserer Ehrfurcht stehe ich unter dem gewaltigen, kompakten Eisportal, welches in allen Gletscher-Farben schillert. Von weit hinten fliesst das Bächlein mit bereits geschmolzenem Gletscherwasser. Es lässt sich mit Worten kaum beschreiben, was ich gerade fühle.

Bild: P. Wiedemann

Schliesslich machen wir uns auf den Rückweg und besichtigen dabei die zwei weiteren Gletscherabbrüche, die wir im März schon begutachteten. Die Veränderungen sind deutlich sichtbar. Bei demjenigen Abbruch, der der Hitze des Sommers am meisten ausgesetzt war, tropft es nur so. Und plötzlich donnern ein paar kleinere Felsbrocken von der Moräne hinunter. Beim Aufprall zersplittert einer davon in Tausend Stücke. Keine Sorge, wir standen weit genug weg. Wir kraxeln über Felsbrocken weiter bis zum Eistunnel vom März. Bevor wir diesen erreichen, entdecken wir einen weiteren, perfekt geformten Eistunnel gleich oberhalb. Ob dies das andere Ende des vorigen Abbruchs ist? Wir verzichten auf das Betreten desselben, denn an der Bruchkante liegen viele kleinere Felsbrocken, und es stürzt ständig Kleinmaterial hinunter. Nö, das muss jetzt nicht sein. Wenige Meter später stehen wir vor «unserem» Eistunnel des vergangenen Winters. Tja, die Vermutung bestätigt sich. Es ist fast alles eingebrochen. Sich hier näher heranzuwagen, wäre aktuell wirklich unvernünftig. Also begnügen wir uns damit, nachvollziehen zu können, wo der Zugänge genau waren und welche Abschnitte noch stehen.

Zurück beim Bahnhof Morteratsch besichtigen wir die Bernina-Wasserfälle. Bis der nächste Zug fährt, passt diese kleine Rundwanderung perfekt. Auf den langersehnten Kaffee müssen wir weiterhin verzichten, denn die meisten Bergrestaurants und Hütten sind ganz geschlossen oder sind in der Zwischensaison.

Ja, was soll ich sagen. Drei wundervolle Wandertage speichere ich nicht nur in meinem Kopf, sondern im Herzen ab. Mein innerer Glaziologe sagt für heute wehmütig Tschüss, nicht nur zum Morteratsch-Gletscher, sondern auch zu den herbstfarbenen Lärchen und schliesslich dem betörenden Engadin. Diese Gegend gefiel mir schon immer. Doch dieser Aufenthalt ging mir so unter die Haut, dass ich gar kurz nach Wohnungen in der Region zu suchen begann.

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