An diesem schönen Herbsttag fahre ich los zur Schwägalp. Wie imposant der Säntis jedes Mal wirkt, wenn man unten bei der Seilbahn steht. Doch diese werde ich erst für den Rückweg nehmen. Zuerst wandere ich in Richtung Siebenhütten und der Chammhaldenhütte. Gemütlich ist es heute, trotz eines Samstags. Oder ist es nur ruhiger auf meiner gewählten Route? Dies sicher, denn heute steht nochmals eine T4-Wanderung auf meinem Plan.
Die Alphütten auf dem Weg zwischen der Schwägalp und der Potersalp sind bereits geschlossen, die Tiere längst im Tal. So treffe ich bis zum abzweigenden Wanderwegweiser beim Schwizerälpli kaum auf Menschen. Auch während des nordseitigen Aufstiegs treffe ich nur auf wenige Wandernde, die diese T4-Bergbesteigung über die so genannte Nasenlöcher-Route wählen. Schmal und schon bald gut steil geht es stetig hoch. Der Wind pfeift mir um die Ohren. An exponierten Stellen bläst er mir gegen den ganzen Körper. Standfestigkeit ist gefragt. Dafür ist die Sicht zum in der Sonne liegenden Kronberg sehenswert.
Ich blicke immer wieder nach oben. Bis jetzt war der Pfad gut begehbar, ohne nennenswerten Herausforderungen. Noch eine Querung und ein kleiner Aufschwung, und da sind sie: die Nasenlöcher. Die Nasenlöcher sind zwei nebeneinander liegende Höhlen, die aus etwas Entfernung eben wie Nasenlöcher aussehen. Hier atmet der Alpstein. Eine erkennbare Spur führt zur einen der Höhlen, doch ich bleibe auf dem Pfad. Jetzt wird es erstmals «kraxelig». Die Querung am steilen Hang ist seilgesichert. Einzelne kleinere Felsblöcke gilt es zu übersteigen. Wegen der Windstärke ist zusätzlich Vorsicht geboten. Kurz darauf folgt der seilgesicherte Felsaufschwung und nochmals eine Klettereinlage. Diese beiden sind die Schlüsselpassagen. Mir machts Spass, und ich hätte Lust auf mehr. Doch das Gelände ebnet sich für einen Moment vor der hinteren Öhrligrueb. Hier liegt anfangs Saison wohl ein See. Auch scheint die Öhrligrueb ein favorisierter Platz für Steinböcke zu sein. Heute sind sie allerdings nicht hier. Die flache Geländestelle ruht friedlich im sanften Sonnenlicht.
Ich blicke zum Öhrli. Der Aufstieg ist ein ungesichertes T4+. Soll ich – soll ich nicht? Es juckt mich gewaltig – nicht nur an meinen Öhrli sondern in fast jeder Körperzelle. Also marschiere ich zum Fuss dieses markanten Gipfels. Die Windstärke auf dem Öhrlisattel bei Punkt 2117 ist beachtlich. Macht ein Aufstieg bei diesen Böen Sinn? Ein Paar, welches gerade vom Öhrlikopf herabsteigt, sagt, dass der Wind nur gerade an dieser Stelle so stark bläst. Gleich hinter dem Felsband wäre es ruhiger und der Aufstieg sei im Windschatten. Also los. Das Plus in der Schwierigkeitsskala ist, dass es hier zum Klettern keine Sicherungen mehr hat. Es geht jedoch recht einfach. Ich finde problemlos Felsen und Ecken, an denen ich mich festhalten und abstützen kann. Und schupps bin ich auf dem Öhrlikopf. Hier oben bin ich dem Wind wieder voll ausgesetzt. Aber Leute, ich könnte weinen vor Freude. Dieses Panorama ist einfach der Hammer! Und: ich hab’s geschafft! Moment – einen Berg hat man immer erst «geschafft», wenn man wieder heil unten ist, nicht wahr? Gerne hätte ich hier oben meinen Proviant verzehrt. Der Wind kühlt mich jedoch schnell viel zu stark aus und hätte mir wohl auch mein Sandwich locker von der Felskuppe gefegt.
So, nun wieder hinunter vom Öhrli. Auch das geht erstaunlich gut, auch wenn ich beim Hinunterklettern direkt in die senkrecht abfallende Felswand nebenan blicken kann. Bei einer kurzen, lediglich etwa einen Meter breiten Passage vor dem Abgrund willst nicht wirklich ausrutschen… Nach einem informativen Gesprächswechsel mit einem Paar ziehe ich weiter zum Höchniderisattel.
Über die Rossegg wandere ich in Richtung Säntis. Einzelne Wegabschnitte hätten in Strandnähe sein können, so sandig sind sie. Etwas Sahara-Feeling kommt auf. Ich entdecke einen stattlichen Felsbogen, interessante Felseinschlüsse und Gesteinsarten und kurze Zeit später Steinböcke – meine Lieblingsalpentiere. Auch Kalkkarrenfelder gibt es einige. Auf diesem Wegteil sind deutlich mehr Leute unterwegs, ist es ja auch wieder ein weiss-rot-weisser Weg, der vom Mesmer/Melchgrueb oder vom Schäfler herkommt.
Das letzte Stück gehe schräg ansteigend ich im Geröll und nochmals leicht kraxelnd via dem «Blauschnee». Schnee liegt natürlich jetzt keiner mehr. Und zum Schluss nochmals ein Säntis-Höhepunkt: die Himmelsleiter. Hier bin ich wieder voll im Wind, der mir kräftig um die Ohren pfeift. Wettermässig war es heute ein ständiges An- und Ausziehen von Kleidern. In geschützten Ecken locker kurzärmlig, im Schatten und an windexponierten Stellen mit drei Lagen an Oberteilen. Zwiebellook nennt man dies, ist beim Wandern allerdings Standard.
Die Talfahrt mit der Säntisbahn schliesst den windigen Tag ab. Ich unterhalte mich mit dem Seilbahnwart über Windverhältnisse und erfahre Spannendes dazu, auch zu Evakuierungsszenarien bei Stillstand oder Notfällen. Ich hätte gleich Lust auf so eine Konstellation, doch die Seilbahnkabine hat noch in allen Richtungen deutlich zu wenig Abweichungen, als dass der Betrieb hätte eingestellt werden müssen.
In innerer Zufriedenheit fahre ich mit dem Postauto zurück nach Urnäsch. Mittlerweile bin ich schon stolz auf mich, Touren in diesem Schwierigkeitsbereich auch im Alleingang zu begehen.