Der Zug nach Brig hat Verspätung und der Anschlussbus ist schon weg. Nun, Kaffee tut der Seele auch gut, und ich warte mit der Gruppe von «Gemeinsam Erleben». Werner hat die heutige Tour geplant und ausgeschrieben. Eine Stunde später kommen wir schliesslich im Dorf Mund an, welches für den Anbau von Safran bekannt ist. Das faule Herumsitzen hat schlagartig ein Ende, denn es geht sogleich steil aufwärts.
Wir sind im Gredetschtal unterwegs und wollen die Suonen Stigwasser, Wyssa und Oberschta erkunden. Obwohl die gesamte Wanderung eher flach und im T2-Bereich ist, gibt es exponierte Stellen, wo Schwindelfreiheit von Vorteil ist. Wer diesen Abschnitten ausweichen möchte, kann durch den langen Umgehungstunnel laufen. Die Gruppe teilt sich tatsächlich. Ich bleibe auf dem Suonenweg und erlebe die spektakulären Durchgänge. Dazwischen gibt es etliche, kurze Felstunnels. In einigen ist das Suonenbett mit Holzbrettern abgedeckt, und sie sind so niedrig, dass man fast auf den Knien hindurchkriechen muss. Hey, macht das Spass. Freude habe ich auch mit meinen neuen Wanderschuhen; nichts drückt mehr.
Ich staune immer wieder, wie und wo diese historischen Wasserleitungen gebaut wurden. Das müssen sehr wagemutige Menschen gewesen sein. Am Tunnelende findet die Gruppe wieder zusammen, und wir picknicken gemeinsam.
Die 7 km lange Wyssa aus dem Jahre 1462 ist die höchste, schönste, jedoch auch die gefährlichste Suone der insgesamt zehn Anlagen im Gredetschtal. Das Nutzwasser fliesst längst durch einen Tunnel nach Mund. Sie dient heute praktisch nur noch als abenteuerlicher Suonenwanderweg.
Nun wartet die Suone Oberschta auf uns. Schön angelegt ist sie und führt uns zwischen Felsen, kleineren Tunnels und saftigem Grün hindurch. Autsch…, ich schlage mir beim Durchschreiten eines kurzen Tunnels den Kopf an.
Nach einem schönen Tag befeuchten wir unsere Kehlen im einzigen Restaurant in Birgisch. Zeit bleibt kaum mehr, denn die Gruppe fährt nach Hause. Ich bleibe im Wallis, beziehe das gebuchte Hotelzimmer in Brig und freue mich auf meine morgige Suonenwanderung.
Tags darauf bin ich alleine unterwegs und nehme den Zug nach Ausserberg. Ich möchte heute zwei Suonen im Baltschiedertal erkunden. Sie gelten als spektakulär. Ihre Namen: Niwärch (erbaut 1381) und Gorperi (erbaut etwa um 1640). Sie liegen, zusammen mit der 1377 erbauten Undra zwischen 1’100 und 1’300 Höhenmetern und bewässern die Kulturlandschaft von Eggerberg und Eggen. Da die Südrampe generell aussergewöhnlicher Sonneneinstrahlung ausgesetzt ist, ermöglichten erst die Suonen, eine Landwirtschaft zu betreiben.
Ich gehe zuerst westwärts, denn aufgrund einer Routenbeschreibung möchte ich schon bei Milachra in den Suonenweg einsteigen. Friedlich plätschert das Wasser durch den Kanal, welcher sich manchmal steinig, manchmal sandig zeigt. Da sehr wenige Menschen diesen Teil begehen, ist der Weg aktuell stark mit hohem Gras überwachsen. Erst wenige Bauern haben es schon gemäht. Die erste ausgesetzte Stelle oberhalb des Eiholzwalds zaubert mir sowohl pure Freude als auch Respekt ins Gesicht.
Bei Choruderri starten die meisten die Suone Niwärch. Bilder habe ich vorab schon viele gesehen und mein Herz schlägt höher. Wann kommen die eindrucksvollen Stellen und wie gehe ich damit um? Lange warten muss ich nicht und halte mich bei der Querung über die Holzbalken und -bretter jeweils am montierten Seil. Hey, macht das Spass. Freudig gehe ich weiter. Es folgen spannende Stellen auf Schritt und Tritt. Selbst wenn keine Holzbalken, Bretter und andere Sicherungen verbaut sind, fällt gegen die Talseite hin der schmale Weg immer steil ab. Fehltritte sind fatal. Zur Beruhigung für Nicht-Schwindelfreie: Es gibt auch hier einen langen Umgehungstunnel.
Als ich beim Wegpunkt Ze Steinu ankomme, kommt plötzlich der Gedanke auf: Mist, die wohl abenteuerlichste Stelle muss ich verpasst haben! Hm, kann nicht sein, es gibt ja nur diesen einen Weg. Vorbei an schwarzem Eringer-Vieh wandere ich zum Stolleneingang. Nein, verpasst habe ich nichts, doch wo ist denn diese haarsträubende Stelle?
Wie auch immer, ich schlage den Weg zur Gorperi ein. Anfangs verläuft dieser Suonenweg lieblich durch Laubwald und ist eher breit. Doch auch hier halte ich meine Aufmerksamkeit hoch. Talwärts geht es immer noch zig Meter hinunter. Auch diese Suone plätschert auf ihrem rund 12 km langen Weg fröhlich vor sich hin. Und dann wird mein Gedankenknopf gelöst. Ich stehe vor der wohl spektakulärsten Stelle im ganzen Baltschiedertal. Ach so, hier ist das. Tja, da hätte ich auf der Niwärch-Seite noch lange suchen können. Oder konnte ich mich einfach nicht mehr an die Routenbeschreibung erinnern, weil mir die Sonne schon den ganzen Tag auf den Kopf brennt…
Ich gucke vorsichtig um die Felsnase. Ja, das ist sie, die hohe, senkrechte Felswand. Zwischen purer Begeisterung und Schnappatmung stehe ich vor der Holzkonstruktion, die für zirka 15 Meter einen sicher 200 Meter tiefen Abgrund überwindet. Darüber führt ein nur 20 cm breiter Holzbalken. Meine Emotionen tanzen Salsa. Nein, ich gehe nicht zurück und durch den Tunnel. Vorsichtig mache ich die ersten Schritte auf diesen Holzbalken und halte mich am gespannten Tau fest. Schliesslich ein lauter Jauchzer am anderen Ende – geschafft! Hey, macht das Spass. Doch wie mache ich das jetzt mit Fotos, ist ja niemand mit mir unterwegs. Ich gehe schliesslich noch sicher fünf Mal über diesen Holzbalken, bis die gewünschten Fotos im Kasten sind. Die 200 Meter Luft unter mir interessieren schon fast nicht mehr.
Beschwingt nehme ich den restlichen Weg unter die Füsse. Meine neuen Wanderschuhe tragen mich sicher zurück nach Eggerberg, wo ich müde aber überglücklich den Zug zurück nach Brig nehme.
Ein kurzes Video findest du hier: https://www.les-bisses-du-valais.ch/de/Suonen/Suone-von-Niwarch-und-Gorperi/#galerie-video (Webseite besucht am 12.07.2023)
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